FANTASIE UND WIRKLICHKEIT – SALOMON VAN RUYSDAELS UTRECHTER „PLOMPETOREN“

Salomon van Ruysdael, Landschaft mit dem Utrechter "Plompetoren", um 1660

Holz, 66,2 x 80,7 cm

© Bayerische Staatsgemäldesammlungen, München
Foto: Sibylle Forster

Details   

FANTASIE UND WIRKLICHKEIT – SALOMON VAN RUYSDAELS UTRECHTER „PLOMPETOREN“

Alte Pinakothek
All Eyes On | Saal IX

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Frisch restauriert bringt Salomon van Ruysdaels Ansicht des Utrechter „Plompetoren“ unerwartete, gar anzügliche Details zu Tage: zwei im Schatten der Bäume kopulierende Rinder sowie einen an die Stadtmauer urinierenden Mann. Die holländische Malerei des
17. Jahrhunderts schreckte auch vor der Wiedergabe solch alltäglicher Motive nicht zurück. Doch ist dieses Bild tatsächlich eine realistische Momentaufnahme? Der damalige Betrachter hätte sofort daran gezweifelt. Denn van Ruysdael platzierte den mittelalterlichen Wehrturm der Stadt Utrecht in eine idyllische, ländliche Umgebung. In Wirklichkeit aber war der im
12. Jahrhundert errichtete „Plompetoren“ Teil der Stadtbefestigung mit insgesamt 13 Türmen.

ALL EYES ON setzt inmitten der Galerie ein Werk oder eine Werkgruppe, eine bedeutende Künstlerpersönlichkeit oder künstlerische Position, Gastauftritte einzelner Leihgaben, wichtige Restaurierungen oder Neuerwerbungen in Szene. Die künstlerischen wie technischen Qualitäten der Gemälde, Inhalt und Bedeutung, ihre Entstehungs- und Wirkungsgeschichte sowie ihre Schöpfer werden im Kontext der Sammlung beleuchtet. Auf diese Weise eröffnen sich neue, aktuelle Perspektiven und vielfältige Einblicke in die Forschungsarbeit an den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen.

Fantasie und Wirklichkeit

Joost Cornelisz. Droochsloot (1586-1666), Stadtwall von Utrecht mit Plompetoren, um 1615 © Het Utrechts Archief

Der enorme wirtschaftliche Erfolg der jungen aufstrebenden Republik der Sieben Vereinigten Provinzen führte in den nördlichen Niederlanden des 17. Jahrhunderts zu rasch wachsendem Wohlstand einer vorwiegend bürgerlichen Bevölkerung und einer steigenden Nachfrage an Kunstwerken zur Einrichtung von Grachtenhäusern und Landsitzen. Die meisten Käufer interessierten sich dabei für eine Vielfalt von Bildthemen und Gattungen, was zu einer hohen Spezialisierung der konkurrierenden Künstler führte.
Landschaften dienten in der Malerei vor 1600 meist nur als Kulisse der eigentlichen Bilderzählung. Im 17. Jahrhundert gewann das Sujet an Eigenständigkeit und Popularität. Salomon van Ruysdael (um 1600–1670) gehörte wie auch sein Neffe Jacob van Ruisdael (1628/29–1682) zu den führenden Vertretern dieses Genres. Ihre Panoramalandschaften mit tiefliegendem Horizont und beeindruckenden Wolkenformationen prägen seit jeher unser Bild der nördlichen Niederlande.
Doch wie wirklichkeitsgetreu sind diese realistisch scheinenden Darstellungen tatsächlich? Bis zum 19. Jahrhundert entstanden Landschaftsgemälde nämlich nicht draußen in der Natur, sondern im Atelier des Künstlers. Sie waren genau wie Stillleben eine freie künstlerische Komposition, eine Art Collage aus vorbereitenden Zeichnungen und neuen Bildideen.
Wer damals Salomon van Ruysdaels "Landschaft mit dem Utrechter Plompetoren" (frei übersetzt „klotziger Turm“) betrachtete, erkannte sofort, dass hier etwas nicht stimmt. Wenngleich das zentrale Gebäude als mittelalterlicher Wehrturm von Utrecht wiederzuerkennen ist, so handelt es sich nicht um eine der Realität entsprechende topografische Ansicht. Der im 12. Jahrhundert errichtete Plompetoren war in Wirklichkeit Teil der Stadtbefestigung mit insgesamt 13 Türmen, wie auf einer Zeichnung des Utrechter Malers Joost Cornelisz. Droochsloot (1586–1666) von 1615 zu erkennen ist. Van Ruysdael löste das Gebäude aus seinem urbanen Kontext und platzierte es in eine idyllische, ländliche Umgebung.

Wir danken der Ernst von Siemens Kunststiftung für die Förderung der Restaurierung im Rahmen der Corona-Förderlinie.

Zeichnen "nach dem Leben"

Herman Saftleven (1609-1685), Ansicht von Utrecht, 1648 © Amsterdam, Rijksmuseum

Seit dem 16. Jahrhundert war es insbesondere für Landschaftsmaler in den nördlichen Niederlanden gängige Praxis, ihr Atelier zu verlassen, um draußen in freier Natur „nach dem Leben“ zu zeichnen. Dadurch verfeinerten sie nicht allein ihre Technik in der Wiedergabe real existierender Motive, sondern legten sich damit zugleich einen Vorrat von Skizzen zur weiteren Verwendung in Gemäldekompositionen und Druckgrafiken an. Auch die Stadtbefestigungsanlage von Utrecht war ein beliebtes Motiv vieler Künstler.
Einer von ihnen war der seit 1632 in Utrecht tätige Herman Saftleven (1609–1685), der von den Mauern und Türmen Utrechts so fasziniert war, dass er jahrelang Stunden dort verbrachte und alles akribisch aufzeichnete. Seine Zeichnungen und Kupferstiche sind heute ein wichtiges Zeitdokument, wie Utrecht vor rund 400 Jahren tatsächlich aussah.
Auf seiner „Ansicht von Utrecht“ aus dem Jahre 1648 ist im Vordergrund ein Maler zu erkennen, der die Silhouette der Stadt auf Papier zeichnend festhält. Am rechten Bildrand erkennen wir den von Salomon van Ruysdael gemalten Plompetoren.

Willem van Drielenburg (1632-1677/79), De Wittevrouentpoort in Utrecht, um 1650/70 © Bayerische Staatsgemäldesammlungen, München, Foto: Sibylle Forster und Herman Saftleven (1609-1685), 1646 © Amsterdam, Rijksmuseum

Das zweite hier vorgestellte Landschaftsbild von Willem van Drielenburg (1632–1677/79) zeigt einen anderen Teil der Utrechter Stadtbefestigung, nämlich das um 1230 erbaute, an der Nordostseite gelegene Stadttor „De Wittevrouwenpoort“. Seit dem Mittelalter war es einer von vier Eingängen in die Stadt. In dem etwa zwischen 1650 und 1670 entstandenen Gemälde ist noch der Zustand des Stadttores vor dessen baulicher Veränderung im Jahre 1649 zu erkennen.

Als motivische Vorlage könnte van Drielenburg ein 1646 datierter Stich seines Künstlerkollegen Herman Saftleven gedient haben, den er auf eigene künstlerische Weise frei interpretierte.

Begleitprogramm

Begleitend zur ALL EYES ON „Fantasie und Wirklichkeit – Salomon van Ruysdaels Utrechter ‚Plompetoren ‘“ lädt die Alte Pinakothek zu einem vielseitigen Kunstvermittlungsangebot ein.
Wir danken der Herbert Schuchardt-Stiftung für die Förderung der Ausstellung und Vermittlung.

KUNSTVERMITTLUNG FÜR ERWACHSENE

FÜHRUNGEN „AUS ERSTER HAND“
Dialogführungen mit Jan Schmidt (Leitender Restaurator) und Bernd Ebert (Sammlungsleiter)
MI 28. JUNI 2023 | MI 15. NOVEMBER 2023 | 18.30 

FÜHRUNGEN
JEDEN SO 11.00-12.00

KUNSTAUSKUNFT
JEDEN SO 12.30-14.30

ZEICHEN-WORKSHOP FÜR ERWACHSENE
Der Workshop widmet sich dem Zeichnen und Skizzieren vor Ort. Am Beispiel der Münchner Stadttore wird die Vorgehensweise des plain air Zeichnens Schritt für Schritt erklärt und über mehrere Seiten gemeinsam im Skizzenbuch erprobt. 
Besonderes Augenmerk gilt der Linienqualität, also der eigenen skizzenhaften Handschrift, die für die ästhetische Erscheinung der Skizzen entscheidend ist. Dazu kommen auf den weiteren Seiten Überlegungen zur Bildkomposition, zum Setzen von Kontrasten und zur Verschattung. Besonders bei architektonischen Motiven ist eine plausible perspektivische Umsetzung aus dem eigenen Standort heraus entscheidend. Dazu werden die grundlegenden Elemente des perspektivischen Abbildens, wie Horizont, Augpunkt, Standort und Fluchtpunkt in weiteren einfachen Skizzen erläutert. Zum Einbinden der Architektur in die Landschaft widmet sich der Workshop auch einfachen Methoden zur Darstellung von Bäumen und dem Relief des Bodens.
Nach den vorbereitenden Skizzen gibt es schließlich noch genügend Zeit um eine gründlich ausformulierte Doppelseite mit dem Motiv eines Münchner Stadttors und seiner städtischen Umgebung zu füllen.
Mit Peter Schmid (Akademischer Rat, Technische Universität München)

SA 22. JULI 2023, Sendlinger Tor | 16. SEPTEMBER 2023, Isartor | 21. OKTOBER 2023, Karlstor | 10.00-13.00 | Anmeldung unter programm@pinakothek.de

KUNSTVERMITTLUNG FÜR KINDER UND FAMILIEN

WORKSHOPS

WE ARE FAMILY Offenes Familien-Programm
SO 23. JULI 2023 | 17. SEPTEMBER 2023 | 15. OKTOBER 2023 | 10.00-13.00
SO 18. JUNI 2023 | 20. AUGUST 2023 | 12. NOVEMBER 2023 | 13.00–17.00
Teilnahme kostenfrei | Einstieg jederzeit möglich | keine Anmeldung erforderlich  
 

Konzert

Musik zu Salomon van Ruysdaels Utrechter „Plompetoren“:
Erik Bosgraaf spielt aus Jacob van Eycks „Der Fluyten Lust-hof“

Mittwoch, 13. September 2023, 18.30.
Alte Pinakothek, Saal IX 

Nur wenige Schritte vom Utrechter „Plompetoren“ entfernt befand sich zu Lebzeiten von Salomon van Ruysdael der Janskerkhof, mit der Janskerk in der Mitte. Der Kirchhof glich einer parkähnlichen Grünanlage, in der die Bürger spazieren gingen. Eine Zeichnung aus dem Jahre 1604 zeigt, dass sich die Grundform bis heute nicht geändert hat.

An diesem Ort unterhielt der blinde Stadtglockenspieler und Barockkomponist Jacob van Eyck (um 1589–1657) an Sommerabenden sein Publikum mit virtuosem Blockflötenspiel. Das Repertoire, zwischen 1644 bis 1656 unter dem Titel „Der Fluyten Lust-hof“ („Lustgarten der Blockflöte“) publiziert, besteht größtenteils aus Variationswerken, die fast alle einem gemeinsamen Schema folgen: Ein zunächst in einfacher Fassung vorgetragenes melodisches Stück wird in mehreren Schritten in kleinere, schnellere Notenwerte aufgelöst („gebrochen“). Den Schlusspunkt bildet eine virtuose Fassung. Zu den Stücken gehören Kirchenlieder, Volkslieder und Kunstlieder und Tänze der Zeit, wie etwa „Lachrymae“ von John Dowland oder „Amarilli mia bella“ von Giulio Caccini.

Mit seiner Van-Eyck-Einspielung gelang dem in Köln lebenden Niederländer Erik Bosgraaf 2006 der internationale Durchbruch. Seither gilt er als einer der besten Blockflötenspieler der Welt, der in fast allen musikalischen Bereichen tätig ist und außerdem stets Verbindungen zu anderen Kunstformen sucht. Für ihn gibt es keinen wesentlichen Unterschied zwischen alter und neuer Musik: „Alte Musik ist immer neu“, so Bosgraaf.

Konzert | MI 13. SEPTEMBER 2023, 18.30
Alte Pinakothek, Saal IX, Eintritt frei nach Erwerb eines Tickets für die ständige Sammlung (am Tag der Veranstaltung an der Kasse erhältlich)

Vortrag | Lecture

Fake Reality! But why?
Vortrag von Laurens Schoemaker, Curator Historical Topography & Maritime Paintings, Netherlands Institute for Art History

During the lifetime of Salomon van Ruysdael, medieval buildings of Utrecht like the “Plompetoren” or the “Wittevrouwenpoort” were depicted many times. But were they drawn and truly painted after life? In what ways and why did painters fake reality? Laurens Schoemaker, curator for historical topography at the Netherlands Institute for Art History, is taking you on a virtual walk through the eyes of the artists along the city walls of Utrecht looking for clues.

Vortrag | MI 04. OKTOBER 2023
Der Vortrag ist in englischer Sprache.