12.04.2021: Provenienz Gurlitt: Was bedeutet das heute für uns?

Der SPIEGEL-Titel zu Gurlitt und zum Münchner Kunstfund (Ausgabe 47/2013)

Kunstfund Gurlitt

2013 wurde in München die Auffindung des Kunstfunds Gurlitt öffentlich gemacht. Dabei handelte es sich um den Nachlass von Hildebrand Gurlitt, der als Kunsthändler im „Dritten Reich“ eine entscheidende Rolle spielte. Sein Sohn Cornelius Gurlitt verwahrte die Restbestände dieses Kunstbestandes in seinem Haus bei Salzburg und in seiner Schwabinger Wohnung. Da für diese gut 1500 Kunstwerke teilweise Raubkunstverdacht besteht, wurden die Bestände nach der Auffindung auf der Webseite www.lostart.de gepostet, um mit größter Transparenz potenziell Berechtigten die Auffindbarkeit entzogener Kunstwerke zu ermöglichen. 

Pierre-Cécile Puvis de Chavannes (?), Mädchen am Meer, 81,8 x 65,5 cm, Öl auf Leinwand

Lost Art Meldung der BStGS

In diesem Zusammenhang haben auch die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen ein Werk mit Raubkunst Verdacht und der Provenienz Gurlitt auf der Seite Lostart.de  veröffentlicht. Es handelt sich um das Werk Mädchen am Meer, das dem Künstler Pierre Puvis de Chavannes zugeschrieben wird (um 1882, Inv.Nr. 10866).

DER WEG DES BILDES IN DIE SAMMLUNG DER PINAKOTHEKEN

Erster Eigentümer nach dem Künstler war der französische Maler und Schriftsteller Ary Renan (1857-1900), der selbst Schüler von Puvis de Chavannes an der Pariser École des Beaux Arts gewesen war. Bis 1943 befand es sich in Frankreich in Privatbesitz und wurde über mehrere Akteure wie Hildebrand Gurlitt an die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen verkauft

DIE AKTEURE IM BESETZEN FRANKREICH:

1. Hildebrand Gurlitt: (1895 – 1956) und Theo Hermsen: (1905  – 1944)

Im Inventarbuch der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen wird Hildebrand Gurlitt als Verkäufer des Bildes „Mädchen am Meer“ genannt und auch in seinem Geschäftsbuch finden wir diesen Verkauf. Demnach hat er das Bild am 12. Juli 1943 von „Hermsen“ in Paris gekauft und am 18. Oktober 1943, an ein „Museum in München“ weiterverkauft.

Der niederländische Kunsthändler Theo Hermsen tritt in Gurlitts Geschäftsbüchern überdurchschnittlich oft als Verkäufer auf. Er war eine zentrale Figur für Ausfuhrgenehmigungen innerhalb des Pariser Kunsthändlernetzwerke, denn französische Kunsthändler und Privatpersonen stellten ungern Rechnungen für ihre Verkäufe an deutsche Käufer aus. Sie waren steuerlich schwierig und hätten als Beweis ihrer Zusammenarbeit mit den Besatzern verwendet werden können. .

Kommt das Bild also gar nicht von Hermsen und Gurlitt?

2. Freiherr Gerhard von Pölnitz (gest. 1962)

Zwei Bildakten der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen enthalten Korrespondenzen zum Ankauf zwischen dem damaligen Direktor der Pinakotheken Ernst Buchner (1892-1962) und einem Hauptmann der Luftwaffe namens Gerhard Freiherr von Pölnitz. Darin ist zu lesen, dass der Kunstvermittler von Pölnitz, der auch NSDAP Mitglied war, das Bild in Frankreich gesehen hat und es dem Museumsdirektor angeboten hat.  „Weiter ist mir ein museales Bild von Puvis de Chavanne [sic] angetragen. Ligiert mit Widmung. Sujet. Frau in Landschaft. Haben Sie dafür eventuell Interesse? Preis circa 500.000 ffr.“

Schließlich einigten sich die beiden Männer auf zwei Ankäufe: Das „Mädchen am Meer“ und eine „Opferung der Iphigenie“ von Jean-Honoré Fragonard. Damit stellte sich für Buchner die Frage: Wie konnte man mitten im Krieg das Bild im besetzten Frankreich mit französischer Währung bezahlen und nach Deutschland transportieren?

Schreiben Gurlitts vom 25.08.1943, BStGS, Bildakt.

Einkäufe in Frankreich

Erschwert wurde der Ankauf von Kunstwerken in Frankreich 1943 dadurch, dass dafür Devisen, also ausländische Währung, benötigt wurden. Die deutsche Besatzung ließ aber nur einen regulierten Austausch von Geld zu, weswegen man Divisen nur schwer bekam. Man brauchte jemanden, der französische Francs beschaffen konnte oder in Frankreich über ein Sonderkonto verfügte. Ernst Buchner wandte sich daher zunächst an Hermann Voss, seit 1943 Direktor der Dresdner Gemäldegalerie und Leiter des Sonderauftrags Linz, der für das von Hitler in Linz geplante Museum regelmäßig in Frankreich einkaufte. Voss signalisierte grundsätzlich Bereitschaft zu helfen, warnte aber, dass es längere Zeit dauern könne.

Der unbekannte Verkäufer des Bildes wollte jedoch schnell verkaufen, weswegen Ernst Buchner auf Hildebrand Gurlitt kam. Dieser war ein Partner von Voss und agierte seit 1943 als Chefeinkäufer für den Sonderauftrag Linz in Frankreich. Gurlitt übernahm den Auftrag, sogar provisionsfrei, als Gefallen, wie er Buchner schrieb: „Ausserordentlich hat es mich gefreut, Ihnen auch einmal gefällig sein zu können. Wie Sie wissen habe ich einen Verdienst in dieser Angelegenheit nicht, sondern die Unkosten entstehen in Frankreich.“

Freigabe George Comnene, BStGS, Bildakt

Kunstschutz

Neben der Händlerprovision und den Kosten für die Rechnungsstellung kam als bürokratischer Aufwand noch hinzu, dass man für den Verkauf eines Bildes aus dem besetzten Frankreich heraus eine Freigabe brauchte. Diese Exportlizenzen erteilte das französische Finanzministerium, wenn die zuständige Abteilung des französischen Ministeriums für industrielle Produktion sowie der Militärbefehlshaber zugestimmt hatten. Zusätzlich schaute der Kunstschutz auf wertvolle Ausfuhren. Laut Haager Landkriegsordnung (1899 bzw. 1907) gehört der Kunstschutz zu den Pflichten der Militärverwaltung in besetzten Ländern. Im Zweiten Weltkrieg war der Sitz des Kunstschutzes in Frankreich in Paris. Er sollte u.a. Schlösser und Denkmäler vor Beschädigungen durch die Wehrmacht schützen, aber auch den deutschen Kunsthandel in Frankreich kontrollieren.
Auf der Ausfuhrgenehmigung für das „Mädchen am Meer“ kann man die verschiedenen Genehmiger erkennen. Beauftragt mit dem Transport nach Deutschland wurde Hildebrand Gurlitt.

Schloss Aschbach (Foto: Wikimedia Commons/Tilmann2007, CC BY-SA 3.0)

Alte Seilschaften

Die  in Frankreich geknüpften Beziehungen und Netzwerke hatten offensichtlich auch nach Kriegsende noch Bestand. So hielt sich Hildebrand Gurlitt bei Kriegsende auf dem Schloss des Freiherrn von Pölnitz in Aschbach auf. Darüber hinaus waren auch Teile seines Kunstbesitzes dort eingelagert, wie wir auf den Karten des Collecting Points lesen können.

Entfernter Inventaraufkleber, BStGS, Bildakt.

Äußere Restitution

Nach dem Krieg beschlossen die alliierten Besatzungsmächte, dass alle Erwerbungen, die in den von Deutschland besetzten Gebieten gemacht worden waren, zurückzugeben sind. Dabei war es egal ob, es sich um einen regulären Ankauf oder eine Raubaktion handelte.

Für die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen bedeutete dies, dass sie die beiden Bilder aus dem hier beschriebenen Ankauf für die äußere Restitution vorbereiten musste. Der Inventarbucheintrag wurde gestrichen, das Inventaretikett abgelöst und die Bilder wurden für den Transport nach Frankreich vorgesehen.

Entsprechend ging das Bild von Fragonard als äußere Restitution nach Frankreich zurück. Für das „Mädchen am Meer“ aber stockte dieser Prozess. Das Bild kam offenbar nicht auf den vorgesehenen Transport. Es verblieb in München im Bestand der Pinakotheken und es gibt bislang noch keine Erklärung, warum das so war. Vielleicht ist es einfach vergessen worden? Vielleicht war es Vorsatz oder der Transport war voll? Wir wissen es noch nicht.

Die Streichung des Inventareintrags wurde irgendwann selbst gestrichen und die Frage nach dem Schicksal des Gemäldes blieb offen.

Seit 2014 ist das „Mädchen am Meer“ auf der Webseite von Lostart gemeldet. Äußere Restitutionen wurden bereits Ende der 1950er-Jahre abgeschlossen, daher kann nur nach den privaten Eigentümern gesucht werden, die im besetzten Frankreich verkauft haben. Bisher verlief die Suche ohne Ergebnis.

Aktuelle Provenienzkette

  • um 1882 - o.D., Pierre-Cécile Puvis de Chavannes (?) (1824 - 1898)
  • vmtl. um 1882 – spät. 1900, Ary Renan (1858 - 1900)
  • o.D. – 12.07.1943 Privatbesitz, Frankreich
  • 12.07.1943 - 18.10.1943 , Hildebrand Gurlitt (1895 – 1956), Dresden, angekauft von Theo Hermsen, Paris, verkauft an Bayerische Staatsgemäldesammlungen, München
  • seit 25.08.1943, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, München, vermittelt durch Freiherr von Pölnitz, München/Paris und importiert über das Kunstkabinett Dr. H. Gurlitt, Hamburg/Dresden unter Mitarbeit von Hugo Engel, Paris (Ministerielle Entschließung Nr. VII 46880 vom 26.10.1943)

 

Quellen/Forschung

Um diese verworrenen Verkaufswege zu erforschen, gibt es derzeit an der TU Berlin ein deutsch-französischen Kooperationsprojekt. Es soll eine Datenbank zu allen Akteuren auf dem französischen Kunstmarkt während der deutschen Besatzung (1940-45) entstehen.

Mehr zu Gurlitts Agieren auf dem französischen Kunstmarkt in: Provenire, Bd. 2, Kunstfund Gurlitt. Wege der Forschung, Berlin 2020, erschienen bei De Gruyter

 

Autorinnen: Dr. Andrea Christine Bambi (Leitung Provenienzforschung ) und Anja Zechel, M. A. Provenienzforschung