17.06.2020: Raffaels Kinder

Raffaels Kinder

Mit Voltaire verschwanden die Engel. Die Übermalung der oberen Bildpartie von Raffaels Heiliger Familie Canigiani ereignete sich kurz nach dem Besuch des großen französischen Aufklärers bei Kurfürst Karl Theodor von der Pfalz. Dessen Galerie-Restaurator, François-Louis Collins, versuchte zunächst die acht Putten auf dem Altarbild abzukratzen, entschied sich dann jedoch sie hinter einem neu gemalten Himmel verschwinden zu lassen. Diese Form des Ikonoklasmus, die 1983 durch eine vom Doerner Institut durchgeführte Restaurierung rückgängig gemacht wurde, zeugt von dem Unbehagen der Aufklärung gegen kirchliche Traditionen wie der Angelologie (Lehre von den Engeln). Engel galten fortan als mythische Nebelschwaden, die im klaren Licht der Vernunft verschwinden würden. Dabei übersah man, dass Raffaels Engel als Individuen gestaltet, ikonographisch und kompositionell voller Bedeutung sind.

Die ersten Märtyrer

Raffael (1483-1520) / Marcantonio Raimondi (um 1480–1527/34), „Der bethlehemitische Kindermord“, um 1509, Kupferstich, 26,7 × 41,6 cm

Raffaels Altarbild zeigt die Begegnung der Heiligen Familie mit Elisabeth und dem Johannesknaben, wie sie in außerbiblischen Texten des Mittelalters ausgeschmückt wurde. Die Begegnung der Familien ereignete sich während ihrer Flucht vor den Bluttaten des Herodes an den Kindern Bethlehems. Engel und Putten gehören in diesem Zusammenhang zur traditionellen Ikonographie. Bereits in Bethlehem wird Josef von einem Engel dazu aufgefordert, mit Maria und Jesus nach Ägypten zu ziehen, um der Ermordung seines Kindes zu entkommen. Das Fest der Unschuldigen Kinder, der ersten Märtyrer des Neuen Testaments, war in der Frühen Neuzeit sehr populär. Bis zum 2. Vatikanischen Konzil wurde die Liturgie des Festes mit dem Introitus aus Psalm 8,2 eröffnet: „Aus dem Mund von Kindern und Säuglingen, o Gott, verschaffst du dir Lob, Deinen Feinden zum Trotz“. Die Engel und Putten auf den Darstellungen der Ruhe auf der Flucht scheinen an diese Kinder und ihre Aufnahme in den Kreis der Heiligen zu erinnern. In ihrer musischen Ruhe verkörpern sie ein paradiesisches Gegenbild zu der Kindstötung, die im Hintergrund als dramatisches, parallel verlaufendes Ereignis mitgedacht werden muss. Die Engelkinder verknüpfen somit diese beiden Szenen und versinnbildlichen dabei gleichsam die Psalmworte, in denen den Bedrängten die Hilfe Gottes durch seine Schutzengel zugesagt wird: „Denn er befiehlt seinen Engeln, dich zu behüten auf all deinen Wegen“ (Ps 91,11) oder „Der Engel des Herrn umschirmt, die ihn fürchten, und er befreit sie.“ (Ps 34,7).

Lucas Cranach d. Ä. (1472-1553), „Ruhe auf der Flucht mit Engelreigen“ (Ausschnitt), um 1513, Holzschnitt 34 x 24 cm

Die Größten im Himmelreich

Davon, dass Gott seine Macht und Überlegenheit im scheinbar Kleinsten und Schwächsten zeigt, erzählt nicht nur die christliche Religion (vgl. Krishna, Horus, Buddha). Auf Raffaels Altarbild sind zehn der dreizehn dargestellten Individuen Kinder: die spielenden Knaben Christus und Johannes, zwei kleine Engel sowie sechs körperlose, nur aus einem Kopf mit Flügeln dargestellte Putten. Als „Kinder ohne Alter“ (Wilhelm Messerer) stellen sie das Urphänomen des zeitlosen Kindes dar. In der Bibel ist Kindlichkeit nicht nur positiv konnotiert, sondern sogar eine Voraussetzung für den Eintritt in das Reich Gottes: „Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen. Wer so klein sein kann wie dieses Kind, der ist im Himmelreich der Größte.“ (Mt 18,3-4). In ihrer unbefangenen Nacktheit verweisen die Kinder auf einen paradiesischen, nicht schambehafteten Urzustand der Verbundenheit mit ihrem Schöpfer. 

Geschwister und Verwandte

Detail der Heiligen Familie Canigiani: Engel und Kopf des Christusknaben, Detail der Madonna Tempi, BStGS Inv.WAF 796

Die Engel und Putten in Raffaels Darstellung bilden eine kompositorische und inhaltliche Entsprechung zu dem auf Erden wandelnden «göttlichen Kind». Sie verweisen als dessen himmlische Geschwister auf die göttliche Abstammung Jesu und regen somit zu einer Meditation über das Mysterium der Inkarnation an. Engel und kleine Putten treten auf zahlreichen Werken Raffaels auf, am berühmtesten bei der Sixtinischen Madonna der Dresdener Gemäldegalerie  und am zahlreichsten wohl im Wandfresko der Disputa im Apostolischen Palast in Rom, das Raffael nur kurze Zeit nach der Anfertigung des Münchner Altarbildes malte. Raffaels nicht aus Musterbüchern übernommene Kinder, die in ihrer Zartheit und Energie in unterschiedlichen Altersstufen dargestellt werden (so scheint auch Johannes der Täufer der Heiligen Familie Canigiani einige Monate älter zu sein als das Christuskind, was historisch korrekt wäre), eignen sich auch für die stilistische Zuordnung der Werke nach Kinder-Typen. Das Christuskind auf der Heiligen Familie Canigiani  gleicht jenem der Madonna Tempi oder der Aldobrandini-Madonna, ist jedoch ganz anders als jenes der später entstandenen Sixtinischen Madonna oder der Madonna di Folgino. Der renommierte Raffael-Experte Arnold Nesselrath widmet in seinem neuen Buch Raffael! den Kinderdarstellungen des Künstlers ein gesamtes Kapitel. Auf deren umfassende Bedeutung verweisend schreibt er: „Raffael hat oft Kinder beobachtet, er war fasziniert von ihnen. Von ihrem Ausdruck und ihren Bewegungen angezogen, stellte er mit großer Einfühlung und Zuneigung ihr Wesen in seinen Skizzen dar, als wären sie seine Kinder. Über den Ort, wo Raffael seine Studien machte, ob es sich um Babys von Freunden oder Verwandten handelte, wissen wir leider nichts. Jedenfalls sind die Kleinen genauso, wie der Künstler sie uns zeigt: Individuen.“

Autor: Andreas Raub, Wissenschaftlicher Volontär