01. Juli 2016: Familientreffen im Museum

Ein Experiment

Sie stehen im Museum, vor einem Gemälde. Sie betrachten die Farben und Formen, sehen eine Figur. Eine Dame in einem prächtigen Kleid ruht auf einer Chaiselongue, den Blick leicht süffisant – oder sinnend? - in die Ferne gerichtet. In ihren Händen hält die Frau – ein Buch. Und plötzlich überfällt Sie die Ahnung einer Geschichte. Denn unwillkürlich fragen Sie sich: „Was geht in dem Bildnis eigentlich vor? Was steht wohl in dem Buch geschrieben, das sie so blicken lässt?“ Und vielleicht: „Was macht der Hund in diesem Boudoir?“ Denn tatsächlich, es gibt einen Hund in unserem Gemälde, dem „Bildnis der Madame de Pompadour“ von François Boucher aus dem Jahr 1756 (und im Katalog können Sie nachlesen, dass er Mimi hieß und dass Madame de Pompadour die Mätresse König Ludwigs XV. von Frankreich war).

Gemälde fordern den Betrachter heraus. Viele Gemälde, zumal solche älterer Meister, wollen erzählen, enthalten Botschaften – und wer viel weiß, der kann sie „lesen“. Gemälde appellieren aber auch an Gefühle – mitunter verleiten sie zum Träumen. Dabei folgen Gemälde ihren eigenen Regeln – wie Texte auch. Literatur und bildende Kunst sind gewissermaßen Geschwister im großen Kreise der Kultur, und so haben wir gemeinsam mit der Münchner Volkshochschule 2015 zum Familientreffen in der Neuen Pinakothek eingeladen, um ein Experiment zu wagen: Was passiert, wenn man sich den Bildern einmal anders nähert – nämlich primär literarisch? Ein Pilotprojekt im Jahr zuvor hatte so überraschende Ergebnisse zutage gefördert, dass wir einen solchen „Kurs zum Kreativen Schreiben“ unbedingt wiederholen wollten. Dieses Mal nun standen neben ganz viel Schöpferkraft und Einfühlungsvermögen der schreibbegeisterten Teilnehmerinnen und Teilnehmer vier Gemälde der Alten Pinakothek (wegen der aktuellen Baumaßnahmen vorübergehend in der Neuen Pinakothek zu Gast) im Zentrum – und mit ihnen ganz unterschiedliche Frauenfiguren des 18. Jahrhunderts. Neben dem beschriebenen Meisterwerk von Boucher waren dies „Die Rübenputzerin“ (um 1738) von Jean Siméon Chardin, Jean-Étienne Liotards „Frühstück“ (um 1753) sowie Maurice-Quentin de La Tours „Mademoiselle Ferrand meditiert über Newton“ (um 1753). Das rätselhafte Stubenmädchen, das gerade ins Bild tritt und die Küchenmagd, die bei der Arbeit innehält, die so real wirkenden Oberflächen von zartem Porzellan und knisternder Seide, aber auch Fragen nach dem Verhältnis zwischen Porträt und Wirklichkeit, nach Geschlechterrollen und –stereotypen – all dies waren Ansatzpunkte für eine Vielfalt an Ideen und Geschichten.

Eine kunsthistorische Einführung stand am Anfang: die Referentin für französische Malerei, Dr. Elisabeth Hipp, erläuterte in Grundzügen, was man über die Bilder weiß. Unter Anleitung des Autors Arwed Vogel suchten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in den Bildnissen und Genreszenen dann nach Anregungen für ihre eigenen Texte. In ihnen transportierten sie die dargestellten Frauen in unsere Zeit oder ließen sie im historischen Rahmen. Die Bilder wurden so zum Ausgangspunkt für eigene sprachliche Schöpfungen, für Erzählungen und kleine sprachexperimentelle Texte. Dabei standen die Fantasie und die Arbeit am literarischen Text im Vordergrund, nicht die historische Genauigkeit. Entstanden sind individuelle, intensive und immer anregende Annäherungen an die Bilder und deren Protagonistinnen, die beispielhaft zeigen, wie facettenreich die Begegnung mit Kunst im Museum sein kann.

Wir haben einige der so entstandenen Texte für Sie zusammengetragen, und mit der Erlaubnis der Autorinnen, bei denen alle Rechte am Text verbleiben, können Sie nun abtauchen in die Ergebnisse des Workshops und die Symbiose aus Literatur und Kunst genießen.

Und wer selbst einmal an einem solchen experimentellen Familientreffen teilnehmen möchte: Es sind weitere Workshops zum Kreativen Schreiben geplant. Die Termine werden im Programm der Münchner Volkshochschule sowie auf unseren sozialen Kanälen und im Programmkalender bekanntgegeben.

Autoren: Dr. Elisabeth Hipp und Antje Lange

„BILDNIS DER MADAME DE POMPADOUR“

"Der Ausflug"

Der Ausflug

von Erika Bader

Endlich war es still geworden, Stimmen und Schritte verklungen. Es war einer dieser langen Tage gewesen, die jede Woche wiederkehrten. Keine Besucher mehr, Ruhe.

Im schwindenden Licht des Abends nimmt sie die leise Bewegung gegenüber gerade noch wahr. Der helle Fleck ist das Kleid der Comtesse de Sorcy.

Das Buch entgleitet ihrer Hand. Sie streift die Schuhe ab, bewegt die Zehen, welche Wohltat. Nimmt die Perücke ab und ihren Halsschmuck. Räkelt und streckt sich, genießt die Bewegung nach dem langen Stillsitzen des Tages. Der schwere Brokat des Kleides raschelt. Sie erhebt sich, macht einige vorsichtige Schritte und tritt aus dem Rahmen.

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"DIE RÜBENPUTZERIN"

"Das zweite Gesicht"

Das zweite Gesicht

von Roberta Metzger

Die Hand mit dem Messer sinkt langsam in den Schoß. Der Blick geistesabwesend. Die Magd starrt ohne Regung vor sich hin.

Der Traum der letzten Nacht lässt sie nicht los. So viele Träume, schon seitdem sie Kind war. Das zweite Gesicht soll sie haben, wie die Großmutter. Der Unfall des Stallburschen, das Stutfohlen mit dem verkümmerten Bein – sie wusste es vorher. Aber sagte es nie. Immer wieder Träume, und wenn’s dann passiert, macht sie sich ganz klein. Als ob sie schuld daran wär’.

Sie schält weiter. Seit zwei Stunden schält sie, und die Schüssel ist nicht mal halbvoll. Die Köchin wird toben.

Wieder kriecht der letzte Traum hoch, immer wieder. Die Magd hält erneut inne. Erst dachte sie, es wären Zwerge gewesen, wegen der roten Mützen. Aber dann sah sie königliche Köpfe rollen, viele Köpfe, Weidenkörbe voller Köpfe. Gleißendes Licht auf dem Fallbeil. Ssssst ... der nächste rollt.

Die Magd schüttelt sich. Versucht den Traum abzuschütteln. Nur ein Traum, nichts weiter. Sie muss noch viele Rüben schälen. Sonst schimpft die Köchin.

"MADEMOISELLE FERRAND MEDITIERT ÜBER NEWTON"

"Vierwortsatz"

Vierwortsatz

von Caroline Miklosi

Steht auf, Mademoiselle, geht!
Steht auf, Mademoiselle Ferrand!
Steht auf Mademoiselle, Newton!
Steht neben Mademoiselle, Newton!
Sprecht neben Mademoiselle, Newton!
Sprecht mit Mademoiselle, Newton!
Lebt mit Mademoiselle, Newton!
Liebt mit Mademoiselle, Newton!
Liebt frei, Mademoiselle, Newton!
Liebt freies Leben, Newton!
Liebt freies Leben, Mademoiselle!
Liebt freies Leben, beide!
Hört freies Teleskopleben, beide!
Schmeckt freies Prismenleben, beide!
Fühlt freies Teleskopprismenleben, beide!
Lebt freies Prismenteleskopleben, beide!
Feiert freie Lebensprismenteleskope, beide!
Liebt, lebt, beide, frei!

"DAS FRÜHSTÜCK"

"Das Frühstück"

Das Frühstück

von Barbara Szauer

Hélène blickte auf die gesenkten Lider und roch Kakao. Sie blickte auf rote Wangen und hörte Vogelgezwitscher. Sie blickte auf die geschlossenen Lippen der Zofe Catherine und spürte das Zittern des Tabletts, das sich auf die braune Decke über ihrem Rock senkte.

Die Zimmertür knarrte. Vorbei an Lippen. Linker Hügelbraue. Vorbei an der duftigen Rüsche, die das braune Haar verwahrte. Ein Klopfen von Absätzen, vermischt mit Keuchen. Hélène verzog die Lippen zu einem gequälten Lächeln. Nicht einmal ein Schluck wurde ihr vergönnt. Marguérite, Hausdame und Vertraute. Herein, ohne zu klopfen … das Haar wirr, die Wangen hochrot, eine Schleife auf ihrem Mieder löste sich.

„Madame, votre mari, il est au courant!“ 

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"DIE RÜBENPUTZERIN"

"Die Rübenputzerin"

Die Rübenputzerin

von Brigitte Dannhäuser

Draußen das Klopfen und Stampfen. Sie unterbricht ihre Arbeit. Lauscht, wartet, dass es sich verstärkt. Jeden Abend kommt der Zug vorbei. Sie kennt seinen Lärm, sein Getöse, wenn er an ihrer Hütte vorbei fährt. Dann zittert der Fußboden, die Pfannen klirren, das Messer im Hackstock schwingt hin und her. Wenn sich die Geräusche entfernen, nimmt sie ihre Arbeit wieder auf, schält ihre Rüben und zerkleinert das Gemüse.

Auf dem Hackstock, neben dem Messer, befindet sich eine Kugel aus Glas. Diese Kugel ist etwas Besonderes. Ein kleiner Eisenturm befindet sich darin und Schneeflocken, die aufwirbeln, wenn Züge vorbei fahren.

Das ein oder andere Mal hält der Zug vor ihrem Haus. Dann knirschen die Räder gefährlich, die Schienen wimmern, die Wagenpuffer schlagen aneinander. Die Flocken in der Kugel toben. Die Frau hält kurz den Atem an, beugt den Kopf weit nach vorne und lauscht. Für kurze Zeit ist alles still und ruhig. Dann setzt der Zug seine Fahrt fort. Die Flocken taumeln noch nervös auf und ab. Die Frau legt die Hand auf die Kugel. Da beruhigen sie sich und sinken wieder zusammen.

„BILDNIS DER MADAME DE POMPADOUR“

"Die vierte Wand"

Die vierte Wand

von Caroline Miklosi

Nun bogen sie in die Wegeskurve, hinein in den Rosengarten. Sie hatte sich bei ihm eingehängt, plaudernd schritten sie dahin in der Weite des Schlossgartens. Er war einen Kopf größer als sie, beide trugen Tageskleider aus feinem Tuch.

Ach, zu genau weiß ich, wo du, oh du mein König, deine Frau hinführst, sie, die mit dir etwas, ha, persönliches besprechen will, „mein Gatte“, in jedem Satz blähte sie es auf, dass die Eifersucht heraus troff.

Bücher, Worte, Wissen, Weisheit, alles Meins, nicht ihr´s, Stolz, Stachel, Schmerz, auch meins, auch ihr´s. 

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"Die öffentliche Frau"

Die öffentliche Frau

von Brigitte Dannhäuser

Ich bin eine historisch bekannte Frau.
Habe mir längst einen Namen gemacht.
Jetzt präsentiere ich mich neu, zeitgemäß,
dem Modecode der gegenwärtigen Businesswelt entsprechend.
Trage Hosenanzug, Gucci-Schuhe, Prada-Tasche, Föhnfrisur.
Das Smartphon lege ich nicht aus der Hand, mein Laptop ist permanent online.
Für feinsinnige Dinge bleibt keine Zeit.

Das Publikum muss man unentwegt beobachten.
Verbindliche Blicke auf abweisende Gesichter zu richten, ist nicht einfach.
Man sollte auch nicht zu konsequent nach unten blicken,
nicht über den Tellerrand hinaus sehen wollen.
Das ist engstirnig und riskant.

In der nächsten Pressekonferenz werden wir über Newton diskutieren,
anschließend über physikalische Kräfte und maschinelle Gewalt.

Denn viele Söhne sind weggezogen.
Frauen zählen ihre Namen auf.
Und die Namen, die man nicht mehr nennen kann, weil es so viele sind,
stehen auf großen Tafeln. 
Manchmal kommen Söhne wieder.
Wenn es einer gut trifft, kommt er im Kloster unter.
Lehrt Jüngere das ABC und diskutiert mit seinesgleichen über Philosophie
während Frauen für Kinder und Familien zuständig sind,
und wenn es Kriege gibt, auch für die Verteidigung.

Das Messer geben wir nicht aus der Hand.

Wenn bei den Verhandlungen ein guter Konsens gefunden worden ist
ziehe ich mich zur Regeneration in eine einsame Hütte zurück.
Werde eine Entschlackungskur durchführen.
Schokoladenfrühstück
hat Pause.
Rüben müssen genügen.
Das Messer gebe ich nicht aus der Hand.
Das Beil bleibt im Hackstock.

Das ist meine Mission.

"DIE RÜBENPUTZERIN"

"Die Rübenputzerin"

Die Rübenputzerin

von Barbara Szauer

Ich bin so müde. Rüben putzen, jeden Tag. Träum schon davon. Die Rüben grinsen, lachen mich aus. Neulich hab ich von einem Raben geträumt. Das is’ ein Zeichen, hat die Céline gesagt, für was Schlimmes. Raben sind der Teufel. Jetzt hab’ ich Angst, dass der Rabe, der Teufel mich holt. Zofe möcht’ ich sein. Rennt und wedelt mit ein paar Federn. Mein Rock ist fleckig trotz Schürze. Der rote ist doch mein guter. Was zieh’ ich jetzt bloß am Sonntag an? Ich bin so müde. Den Kürbis muss ich auch noch schälen und hacken. Wenn ich auf das Beil im Hackstock seh’, aber das ist der Rabe ... Noch drei Tage bis Sonntag. Stell dir vor, die Céline hat den ganzen Sonntag frei! Meine drei Stunden reichen nicht für den Rummel in Saint-Ovide. Da gibt es Seiltänzer und welche, die Löwen …, die mit Löwen spazieren und Theater gibt’s auch. Oder wenigstens ins Kaffeehaus, aber da dürfen nur Männer und Ritter und solche rein. Aber der Jacques holt mich. Einmal waren wir im Bois, da hat er mir den Rock hoch. Der Herr macht das auch, aber der ist alt, an seiner Nase hängt was und seine Perücke staubt immer so. Bloß was mach ich, wenn …? Ob der Jacques mich heiratet? Irgendwas juckt. Mist schon wieder einer. Dabei hab’ ich erst zwei zerquetscht.

„BILDNIS DER MADAME DE POMPADOUR“

"Das Modell"

Das Modell

von Evamaria Michahelles

Mon Dieu, meine Zeit! Rast dahin! Der Tag ... weg ... schon fast wieder Abend. Und Boucher? Was tut Boucher? Malt wie eine Schnecke. Dem Künstler schlägt keine Stunde. Werde ihm noch – sagen wir – fünf Minuten sitzen. Danach: Schluss für heute.

Die Reihenfolge: Blumengarten, Kräutergarten, zuletzt Gemüsegarten. Oder? Nein! Es geht um Steigerung! Erst der Gemüsegarten, zum Schluss der Blumengarten. Nicht doch! Ich werde den König als Erstes in die neuen Gewächshäuser führen. Er wird staunen. Das neue Bewässerungssystem, mon Dieu! Ein Wunderwerk.

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"MADEMOISELLE FERRAND MEDITIERT ÜBER NEWTON"

"Mademoiselle Ferrand"

Mademoiselle Ferrand

von Roswitha Przyrembel

Pantöffelchen trippeln auf dem Flur. Werden lauter, kommen näher. Stille vor der Tür.

Élisabeth, noch eben versunken in ihrer Lektüre, blickt auf, hin zur weißen Tür. Ihre Augen wandern dort von der üppigen Verzierung, kunstvollem Blattgeranke, das sich an dem  Türstock entlang schlängelt, weiter, hin zur pausbackigen Sonne, die in der Mitte der Tür lacht.

Langsam dreht sich der goldene Türknauf und ebenso langsam öffnet sich ein Türflügel. Ein Spitzenhäubchen, verziert mit rosa Schleifchen, schiebt sich durch den geöffneten Spalt.

Eine freche Nase, sommersprossig, versteckt in wogender belgischer Spitze folgt.

Dann – gespannte Erwartung.

Élisabeth musste lachen „Claire, mein kleiner Harlekin, komm herein!“ Kaum waren diese Worte ausgesprochen, schaute ein lachendes Gesicht um die geöffnete Tür. Grüngraue Augen blitzten schelmisch. Die Tür flog nun ganz auf. Morgensonne beleuchtete die Gestalt in fast identischem Morgengewand, die nun theatralisch die Arme hob und ausrief  „Élisabeth, was ist Dir wichtiger: Newton oder die Morgenschokolade“